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Sitzungsübersicht
Sitzung
4-11: Stereotype von (angehenden) Lehrkräften und deren Inhalte: Perspektiven aus qualitativen Forschungsprojekten
Zeit:
Dienstag, 19.03.2024:
10:30 - 12:10

Ort: S27

Seminarraum, 70 TN

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Präsentationen
Symposium

Stereotype von (angehenden) Lehrkräften und deren Inhalte: Perspektiven aus qualitativen Forschungsprojekten

Chair(s): Oscar Yendell (Universität Mannheim, Deutschland), Hannah Kleen (DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation)

Diskutant*in(nen): Meike Bonefeld (Universität Freiburg), Matthias Forell (Ruhr-Universität Bochum)

Die Einstellungen von Lehrkräften gegenüber benachteiligten sozialen Gruppen wurden vielfach untersucht (Glock et al., 2020). Welche Assoziationen mit bestimmten sozialen Gruppen verknüpft werden, ergibt sich aus Stereotypen, die als kognitive Einstellungskomponente verstanden werden können (Eagly & Chaiken, 1993). Stereotype beinhalten u.a. antizipierte Charakteristika und Verhaltensweisen gegenüber Mitgliedern sozialer Gruppen, beispielsweise Schüler*innen mit niedrigem sozioökonomischen Status (SES; Bspw. Beruf oder Bildung der Eltern). Diese Assoziationen können neutral, positiv oder negativ sein (Eagly & Chaiken, 1993).

Speziell in der Schule ist es wichtig zu erfahren, was genau Stereotype beinhalten, da sie bspw. mit verzerrten Leistungserwartungen in Verbindung gebracht werden können (Gentrup, 2018). In der Bildungsforschung wird bei der Untersuchung von Stereotypen häufig auf das Wärme-Kompetenz-Modell von Fiske et al. (2002) zurückgegriffen. Die beiden Facetten Wärme und Kompetenz werden dabei als universelle Inhaltsbereiche von Stereotypen beschrieben, jedoch ermöglichen sie keinen Zugriff auf die inhaltliche Breite von Stereotypen (Imhoff, 2021; Schell et al., under review; Yendell et al., 2023).

Qualitative und an Sprache orientierte Forschungsprojekte eignen sich durch ihre Offenheit, diese Inhaltsbereiche tiefergehend zu untersuchen (Hollander & Abelson, 2014). Zudem ermöglicht die Offenheit, weitere Aspekte explorativ einzubeziehen, die Stereotype in der schulischen Praxis beeinflussen können (bspw. Interaktionen zwischen Lehrkräften) (Mayring, 2020). Einerseits können die Ergebnisse daher hypothesengenerierend für quantitative Folgestudien sein. Andererseits können sie tiefere inhaltliche Einblicke in die Ergebnisse quantitativer Forschungsprojekte bieten (Cresswell & Plano-Clark, 2011). Daher werden in diesem Symposium Beiträge präsentiert, die sich aus unterschiedlichen qualitativen Perspektiven mit Stereotypen von (angehenden) Lehrkräften auseinandersetzen. Die unterschiedlichen Perspektiven ergeben sich durch vielfältige Erhebungsarten (Gruppendiskussionen, Interviews, offene Assoziationsaufgaben) sowie Auswertungsformen (qualitative Inhaltsanalyse, Grounded Theory, rekonstruktiv-hermeneutische Analyse). Zudem werden unterschiedliche theoretische Bezüge präsentiert (Doing Difference und Positioning-Analyse). Dabei wird vor allem auf die Gruppe der Schüler*innen mit niedrigem SES fokussiert. Deren Benachteiligung wird u.a. anhand niedriger Leistungen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2022) oder negativer Einstellungen von (angehenden) Lehrkräften (Glock & Kleen, 2020; Tobisch & Dresel, 2020) ersichtlich.

Im ersten Beitrag (Yendell et al.) wurden mittels Gruppendiskussionen die Assoziationen von Lehrkräften gegenüber Schüler*innen mit Transferleistungsbezug (Bürgergeld) herausgearbeitet. Eltern, die Transferleistungen beziehen, werden als eher verantwortungslos beschrieben und schlechte Schüler*innenleistungen werden durch eine antizipierte Vererbung dieser Verhaltensweisen begründet. Einige Lehrkräfte widersprechen diesen negativen Assoziationen jedoch auf Basis positiver Erfahrungen in der Interaktion mit Eltern.

Im zweiten Beitrag (Claus) wurden Grundschullehrkräfte in Deutschland und Argentinien kulturvergleichend interviewt. In beiden Kontexten wurde eine Verbindung zwischen sozialer Herkunft, fehlender Unterstützung und schlechter Schulleistungen gezogen. Bei deutschen Lehrkräften lag der Fokus jedoch auf einem individualisiertem Versagen der Schüler*innen, während in Argentinien von einem gesellschaftlichen Bildungsversagen ausgegangen wurde.

Der dritte Beitrag (Dickert & Glock) untersuchte die Rolle des Elternhauses bei den Stereotypen gegenüber Schüler*innen mit Förderbedarf. Lehramtsstudierende assoziierten Schüler*innen mit dem Förderbedarf Verhalten und Lernen mit einem wenig unterstützenden Elternhaus sowie vorwiegend negativ. Bei dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zeigt sich dies hingegen nicht.

Im letzten Beitrag (Enssen) wurden stereotype Annahmen von schulischen Akteur*innen im Berufsorientierungsprozess von Schüler*innen in sozial deprivierter Lage untersucht. Es wird gezeigt, dass stereotype Denkmuster vor allem von Akteur*innen reproduziert werden, die in Ermangelung von kollegialer Kooperation, Schwierigkeiten haben, die berufliche Entwicklung von Schüler*innen positiv zu beeinflussen.

Die Vielfalt der Beiträge ermöglicht es, Stereotype und deren Erforschung unter dem Einsatz unterschiedlicher Methoden sowie Theoriebezüge weiterzudenken. Hierdurch können interdisziplinäre Forschungsprojekte (bspw. Mixed-Methods) forciert und ein Transfer zwischen Wissenschaftsdisziplinen hergestellt werden, wodurch ein muliperspektivisches Verständnis für Stereotype in Bildungsprozessen ermöglicht wird. Um diesen Anspruch zu begegnen, werden die Beiträge einerseits aus der Perspektive der quantitativ orientierten Stereotypforschung (Jun. Prof. Dr. Meike Bonefeld) diskutiert. Andererseits werden sie vor dem Hintergrund schul- und ungleichheitsbezogener Theoriebezüge diskutiert, die in der qualitativen Forschung Anwendung finden (Dr. Matthias Forell).

 

Beiträge des Symposiums

 

Bürgergeld in Schule – Wie der Transferleistungsbezug von Schüler*innen in schulischen Interaktionen sichtbar wird und welche (stereotypen) Erwartungen Lehrkräfte gegenüber Schüler*innen aus dem Transferleistungsbezug haben

Oscar Yendell1, Carolina Claus2, Karina Karst1
1Universität Mannheim, 2Humboldt-Universität zu Berlin

Studien zeigen, dass Schüler*innen niedriger sozioökonomischer Herkünfte (SES) von (angehenden) Lehrkräften u.a. im Hinblick auf Intelligenz und Sozialverhalten negativer stereotypisiert werden als Schüler*innen höherer SES (Dunkake & Schuchart, 2015; Eagly & Chaiken, 1993; Glock & Kleen, 2020). Dies kann niedrigere Leistungserwartungen zur Folge haben (Gentrup et al., 2018). Zusätzlich wird gezeigt, dass unterschiedliche niedrige SES unterschiedlich stereotypisiert werden. Transferleistungsbeziehende (Bürgergeld bzw. ehemals „Hartz-4“) werden von angehenden Lehrkräften u.a. in Hinblick auf Leistungsbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein negativer stereotypisiert als Einkommensarme ohne Transferleistungsbezug (Yendell et al., 2023). Ähnliche Ergebnisse zeigen sich in außerschulischen Studien (Henry et al., 2004; Suomi et al., 2022). Obgleich ca. zwei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland Transferleistungen beziehen (Bundesagentur für Arbeit, 2023), ist bisher unbekannt, ob und in welchen Interaktionen der Transferleistungsbezug von Schüler*innen für Lehrkräfte sichtbar wird. Ebenso ist unbekannt, welche Erwartungen Lehrkräfte an diese Schüler*innen haben und welche Rolle Stereotype dabei spielen.

Um diesem Desiderat zu begegnen, richtet sich der Beitrag am „Doing Difference“-Ansatz aus, nach dem soziale Kategorien (z.B. Transferleistungsbeziehende) in schulischen Interaktionen „getan“ und sichtbar werden (West & Fenstermaker, 1995). Erwartungen durch Lehrkräfte können als Kern dieses Ansatzes verstanden werden, da sie eine Rechenschaftspflicht an Schüler*innen in Bezug auf Gruppenzugehörigkeit (Transferleistungsbezug) und Situation (Schule) formulieren (Hollander, 2013). Stereotype können Teil dieser Erwartungen sein (Imhoff, 2021).

Fragestellung

Untersucht wird, ob und in welchen Interaktionen der Transferleistungsbezug von Schüler*innen für Lehrkräfte sichtbar und wahrnehmbar wird. Zusätzlich wird untersucht, welche Erwartungen Lehrkräfte gegenüber diesen Schüler*innen äußern und welche Bedeutung Stereotype dabei haben.

Methodologisch-Methodischer Ansatz

Die Erhebung wurde durch sechs Gruppendiskussionen mit Sekundärschullehrkräften (N=24) an gymnasialen und nicht-gymnasialen Schulformen zwischen Juni und Oktober 2023 realisiert. Gruppendiskussionen wurden als Raum für das interaktive „Doing“ verstanden, indem Lehrkräfte über Interaktionssituationen berichten und eigene Erwartungen auf den Transferleistungsbezug von Schüler*innen durch Sprache „tun“ konnten (Barbour, 2018; Hollander & Ableson, 2014; Morgan, 2019). Hierdurch wurde dessen (Nicht-)Bedeutung für die Schule miteinander ausgehandelt.

Die Auswertung orientierte sich an der Grounded Theory (Corbin & Strauss, 1990; Strauss & Corbin, 1998), im Zuge dessen Kernkategorien gebildet wurden. Diese stellen einerseits Interaktionen dar, in denen der Transferleistungsbezug von Schüler*innen für Lehrkräfte sichtbar und wahrnehmbar wird. Zum anderen stellen sie die Erwartungen der Lehrkräfte gegenüber Schüler*innen aus den Transferleistungsbezug und damit verbundene Stereotype dar.

Ergebnisse

Übergreifend berichten die Lehrkräfte, dass der Transferleistungsbezug in der Interaktion zwischen Lehrkräften, Schüler*innen und Eltern sichtbar wird. Beispielsweise in Interaktionen, in denen Schüler*innen über den Transferleistungsbezug berichten, da sie ihre Eltern bei Behördengängen während der Schulzeit begleiten. Darüber hinaus erwähnen Lehrkräfte bürokratische Tätigkeiten, die sie übernehmen müssen, z.B. Antragsstellungen zur Finanzierung von Schulausflügen, Mittagsverpflegung oder Schulmaterialien. Die Lehrkräfte formulieren, dass sie für Eltern teilweise als erste Ansprechpersonen in Bezug auf bildungsbezogene behördliche Fragestellungen dienen.

Im Hinblick auf Erwartungen, werden Eltern durch einige Lehrkräfte wegen ihres Transferleistungsbezuges als schlechte Vorbilder adressiert, da ihnen eine geringe Leistungsbereitschaft zugeschrieben wird. Zudem werden sie als verantwortungslos umschrieben, indem ein geringes Bildungsinteresse und ein verantwortungsloser Konsum benannt wird. Gleichzeitig wird eine kulturelle Vererbung dieser Verhaltensweisen an die Kinder antizipiert. Das Wissen um den Transferleistungsbezug wird dann genutzt, um schlechte Schüler*innenleistungen durch die wahrgenommene Vererbung zu begründen. Gleichzeitig wird eine Machtlosigkeit in Hinblick auf die eigene Tätigkeit formuliert. Andere Lehrkräfte, die zum Teil an derselben Schule arbeiten, beschreiben Eltern und Kinder hingegen als interessiert an schulischer Bildung. Die eigene Tätigkeit erleben sie als eine Unterstützung von Schüler*innen im Transferleistungsbezug, die auch gemeinsam mit Eltern geleistet wird. Zur Begründung dieser unterschiedlichen Sichtweisen wird auf die oben aufgeführten Interaktionen mit Eltern und Schüler*innen verwiesen.

Die Ergebnisse werden vor dem Hintergrund weiterer notwendiger Studien diskutiert, die das „Doing“ vom Transferleistungsbezug in Interaktion zwischen Schüler*innen, Eltern und Lehrkräften direkt und multiperspektivisch untersuchen.

 

Doing Difference – entlang der Kategorie soziale Ungleichheit im argentinisch-deutschen Vergleich

Carolina Claus
Humboldt-Universität zu Berlin

Der vorliegende Beitrag greift Bildungsungleichheiten in der Grundschule im binationalen Vergleich zwischen Argentinien und Deutschland auf und orientiert sich dabei am Konzept des Doing Difference (West & Fenstermaker, 1995; Budde, 2023; Spiegler, 2018; Walgen-bach 2017) entlang der Kategorie soziale Ungleichheit. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Bildungsungleichheiten nicht zuletzt durch das Handeln und die Orientierungen von Lehrper-sonen (re-)produziert werden. So stellen sie im Unterricht z.B. durch Differenzsetzungen zwi-schen Schüler*innen Ungleichheiten her. Diese Differenzsetzungen bauen u.a. auf stereoty-pen Zuschreibungen (Yendell et al., 2023) gegenüber Schüler*innen auf, die sich wiederum z.B. auf deren soziale Herkunft beziehen können. Stereotype vermögen folglich nicht nur das unterrichtliche Handeln der Lehrpersonen (negativ) zu beeinflussen, sondern zugleich (Bildungs-)Ungleichheiten zwischen Schüler*innen zu verstärken (Eagly & Chaiken, 1993).

Schließlich mündet das Forschungsinteresse in der Frage danach, inwiefern Lehrpersonen im schulischen, insbesondere unterrichtlichen Alltag Differenzsetzungen vornehmen. Dabei steht die Differenzkategorie soziale Ungleichheit im Fokus. In den Blick gerät so ferner, inwiefern diese Differenzkonstruktionen der Lehrpersonen den an sie gerichteten Anspruch ‚allen Schüler*innen gerecht zu werden‘ potentiell unterlaufen; diskutiert wird dies in Bezug auf Bildungsgerechtigkeit im Anschluss an die Konzepte der Verteilungs-, Teilhabe- und Anerkennungsgerechtigkeit.

Im Fokus steht eine binational vergleichende Auseinandersetzung, da Schule einerseits als ursprünglich nationalstaatlich gegründete und begründete Bildungsinstitution Länderspezifika aufweist. Im Zeitalter der Globalisierung ist die Schule jedoch andererseits von kollektiven Veränderungsprozessen geprägt ist, die über strukturelle Rahmensetzungen hinaus ebenso die pädagogische Theorie und Praxis einschließen (Gonon, 2017). Anzunehmen ist somit, dass sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede im Hinblick darauf zeigen, inwiefern die argentinischen und die deutschen Lehrpersonen Differenzsetzungen entlang der Kategorie soziale Ungleichheit prozessieren und bspw. mit Bildungsungleichheiten umgehen.

Im Zuge der Studie wurden in beiden Ländern jeweils acht halbstrukturierte Expert*inneneninterviews (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2021) mittels offener Interviewleitfaden (Meuser & Nagel, 1991) geführt. Interviewt wurden Grundschullehrpersonen, die zum Zeit-punkt der Erhebungen (von 2020 bis 2022) Klassenlehrer*in einer ersten oder zweiten Klasse waren. Die Auswertung des Datenmaterials erfolgte in Anlehnung an die Grounded Theory Methodologie nach Glaser und Strauss (2008).

Die interviewten Lehrpersonen, so zeigen die Befunde, ziehen Differenzlinien, die sich entlang der Kategorie soziale Herkunft entfalten. Im Zuge dessen greifen sie zum einen die familiale Unterstützung, die in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft als defizitär oder als „zuviel“ markiert wird, auf. Zum anderen thematisieren sie die schulische Leistungserbringung, die sich aus der Perspektive der Lehrpersonen in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft – und damit wiederum verbunden der familialen Unterstützung – durch Leistungsschwäche oder Leistungsstärke auszeichnet.

Sowohl die argentinischen als auch die deutschen Lehrpersonen stellen einen Zusammen-hang zwischen de-privilegierter Herkunft – defizitärer/ fehlender familialer Unterstützung – schwachen schulischen Leistungen her. Unterschiede zeigen sich darin, dass (a) die deut-schen Lehrpersonen in diesem Kontext tendenziell auf individuelles, also auf einzelne Schü-ler*innen bezogenes Bildungsversagen hindeuten, während die argentinischen Lehrpersonen tendenziell auf kollektives und mithin gesellschaftliches Bildungsversagen schließen, was eine Mehrheit der Schüler*innen eines Klassenverbandes betrifft. Ferner zeigen sich Unter-schiede (b) hinsichtlich der Anforderungen an ‚Schulkinder‘: So formulieren die deutschen Lehrpersonen voraussetzungsreiche Erwartungen, indem sie eine Vielzahl an Eigenschaften und Fähigkeiten auflisten, die Schulkinder aus ihrer Perspektive idealtypisch kennzeichnen bzw. beherrschen (sollten). Diese umfassen u.a. das soziale Miteinander oder die Eigenorga-nisation. Die argentinischen Lehrpersonen zeichnen dagegen das Bild eines ‚Schulkindes‘ als ‚Kind, das zur Schule geht‘ und machen dies nicht von spezifischen Anforderungen abhängig, die erfüllt werden sollten.

Diese Befunde sind u.a. anschlussfähig an den Diskurs um Doing Pupil oder Doing Student (Walgenbach, 2015). Zusammengenommen sind die auf Stereotypen aufbauenden Differenzsetzungen zu problematisieren, da die Schüler*innen im Zuge dessen pauschal kategorisiert und nicht als Individuum anerkannt werden. Das unterläuft bspw. die Sphäre der Anerkennungsgerechtigkeit, was es im Rahmen des Beitrags zu entfalten gilt.

 

Zeig‘ mir deine Eltern und ich sag‘ dir, was du hast? Stereotype bezüglich des Elternhauses über Schüler*innen mit verschiedenen sonderpädagogischen Förderbedarfen von (angehenden) Lehrkräften

Janina Dickert, Sabine Glock
Bergische Universität Wuppertal

Theoretischer Hintergrund und Fragestellung:

Schüler*innen aus einem sozial benachteiligten Elternhaus werden eher als Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf erkannt und an Förderschulen beschult als Schüler*innen aus einem privilegierten Elternhaus (Kölm et al., 2017). Da Lehrkräfte auch das Elternhaus für das Fehlverhalten von Schüler*innen verantwortlich machen (Andreou & Rapti, 2010), ist denkbar, dass Assoziationen zwischen dem Elternhaus und dem Verhalten von Schüler*innen auch die Diagnostik von SPF beeinflussen. Als ursächlich für diese Assoziationen werden Stereotype von Lehrkräften diskutiert. Stereotype, also verallgemeinerte Annahmen oder Überzeugungen über Mitglieder sozialer Gruppen (Hilton & von Hippel, 1996), können wie logische Fehler wirken, die entstehen, wenn Lehrkräfte Merkmale zur Beurteilung heranziehen, die für die Beurteilung eigentlich unzureichend sind (Kleber, 1976). Stereotypen variieren gleichzeitig nicht nur inhaltlich, sondern auch in Bezug auf ihre Valenz (positiv, neutral, negativ).

Während bekannt ist, dass Schüler*innen aus einem sozial benachteiligten Elternhaus als weniger intelligent, fleißig, ehrgeizig und motiviert eingeschätzt werden als ihre Mitschüler*innen aus einem privilegierten Elternhaus (Tobisch & Dresel, 2020), ist bislang unklar, welche Stereotype gegenüber dem Elternhaus von Schüler*innen mit Verhaltensauffälligkeiten sowie den Förderbedarfen Lernen und geistige Entwicklung existieren. Die vorliegende Arbeit untersucht deshalb den Inhalt und die Valenz solcher Stereotype. So soll ein tieferer Einblick in die zugrunde liegenden Mechanismen der Ungleichbehandlung gewonnen werden. Dies ist besonders relevant für Analysen einer möglichen „doppelten“ Benachteiligung von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf und einem sozial benachteiligten Elternhaus.

Methode:

Die Inhalte der Stereotype wurden mittels einer Assoziationsaufgabe erfasst. Die Proband*innen wurden gebeten, ihr Wissen über Vorstellungen und Annahmen von (angehenden) Lehrkräften wiederzugeben. Hierzu wurden den Proband*innen zufällig einer der vier sonderpädagogischen Förderbedarfe (Lernen, internalisierende sowie externalisierende Verhaltensstörung, geistige Entwicklung) zugeteilt. Die Stichprobe umfasste 88 Master-Lehramtsstudierende (89,41 % weiblich). Befragt wurden Studierende mit dem Ziel Grundschule (81.82 %) und HRGe (18.18 %), da der Großteil der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf diese Schulformen besucht (KMK, 2022).

Zur Auswertung der Assoziationen wurden induktive Kategorien gebildet („Elternhaus ohne Einfluss“, „niedriger SES“, „niedriger Bildungsstand“, „niedriges Einkommen“, „hohe elterliche Unterstützung“ „hohe oder niedrige elterliche Unterstützung“, „niedrige elterliche Unterstützung“, „familiäre Konflikte“, „Psychopathologie der Eltern“) und mittels qualitativer Inhaltsanalyse (Mayring, 2010) ausgewertet. Alle Kategorien wurden zudem hinsichtlich ihrer Valenz bewertet.

Ergebnisse:

Der Großteil der Proband*innen hatte stereotype Vorstellungen über das Elternhaus von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf hinsichtlich einer niedrigen elterlichen Unterstützung (z. B. „Das Kind ist oft auf sich alleine gestellt“, „das Kind bekommt keine Hilfe von den Eltern“, „es gibt keine Regeln und Strukturen“) (55 Nennungen). Die Proband*innen gaben an, dass die Eltern von Schüler*innen mit den Förderbedarfen Lernen (14 Nennungen), internalisierende (16 Nennungen) und externalisierende Verhaltensstörung (23 Nennungen) wenig unterstützend seien. Über den Förderbedarf geistige Entwicklung wurden hingegen weniger stereotype Annahmen bezüglich des Elternhauses von den Lehramtsstudierenden wiedergegeben.

Bei der Auswertung der Valenz zeigte sich zudem, dass überwiegend negative Stereotype über das Elternhaus von Schüler*innen mit den Förderbedarfen Lernen (65,63 %), internalisierende (89,36 %) und externalisierende (84,31 %) Verhaltensstörung genannt wurden, während über das Elternhaus von Schüler*innen mit dem Förderbedarf geistige Entwicklung vermehrt positive Stereotype wiedergegeben wurden (40,63 %).

Diskussion:

Stereotype in Bezug auf das Elternhaus zeigen sich vor allem bei den Förderbedarfe Lernen und Verhalten (internalisierend und externalisierend), beziehen sich vor allem auf die elterliche Unterstützung und sind überwiegend negativ. Deutlich weniger Stereotype zeigen sich hinsichtlich des Förderbedarfs geistige Entwicklung, diese sind dann vermehrt positiv.

Die Sonderstellung der beiden Förderbedarfe Lernen und Verhalten wurde bereits in anderen Studien deutlich: Lehrkräfte haben gegenüber den beiden Förderbedarfen besonders negative Einstellungen (de Boer et al., 2011; Schwab & Seifert, 2015). Die vollständigen Ergebnisse werden im Rahmen des Vortrags aufgezeigt und diskutiert.

 

Zwischen Entschlossenheit und Resignation – Zum Einfluss von Stereotypen auf wahrgenommene Handlungsspielräume schulischer Akteur:innen im Berufsorientierungsprozess von Schüler:innen mit heterogenen Unterstützungsbedarfen

Susanne Enssen
Universität Duisburg-Essen

Der Übergang von der Schule in weitere (Aus-)Bildungswege markiert für Schüler:innen einen wichtigen Lebensabschnitt. Das Verlassen des gewohnten (schulischen) Umfeldes in einen neuen Lebensabschnitt ist für die jungen Menschen mit vielfältigen Entwicklungsaufgaben verbunden (Daigler 2018). Damit der Übergangsprozess für die Schüler:innen möglichst erfolgreich verläuft, werden sie bereits während der Schulzeit im Rahmen der Berufsorientierung auf den Arbeitsmarkt und das Erwachsenwerden vorbereitet. Obwohl die berufliche Orientierung durch Vorgaben der Kultusministerkonferenz im schulischen Alltag verankert ist (KMK, 2017), gestaltet sich die Umsetzung an den Schulen noch sehr unterschiedlich. So kommt es dazu, dass die Gestaltung des beruflichen Orientierungsprozesses u.a. von der Schulform, individuellen Förder- und Unterstützungsbedarfen und den Personen, die den beruflichen Orientierungsprozess begleiten, abhängig sind (Friese, 2020).

Obwohl schulische Akteure der beruflichen Orientierung bestrebt sind, allen Schüler:innen die gleichen Chancen auf einen erfolgreichen Übergang von der Schule in weitere (Aus)Bildungswege zu ermöglichen (Brüggemann & Rahn, 2020; Burda-Zoyke & Radde, 2019), kann die Begleitung und Beratung von stereotypischen Denkmustern geprägt sein, wie bspw. in Bezug auf Geschlechterstereotype bekannt ist (Scholand, 2020). Stereotype können unterschiedliche Ursachen haben, da die Bedingungen, unter denen Schüler:innen den Übergang von der Schule ins Erwachsenwerden und weitere (Aus)Bildungswege bewältigen, auch von individuellen Schüler:innenmerkmalen geprägt sind (Brüggemann & Rahn, 2020). Im Fokus des Beitrags steht daher der Einfluss von stereotypischen Denkmustern auf die wahrgenommenen Handlungsspielräume schulischer Akteur:innen im Berufsorientierungsprozess von Schüler:innen mit heterogenen Unterstützungsbedarfen.

Fragestellung

Welche heterogenen Unterstützungsbedarfe haben Schüler:innen an Schulen in sozial deprivierter Lage im Berufsorientierungsprozess und inwieweit beeinflussen stereotypische Denkmuster (Eagly & Chaiken, 1993) schulischer Akteur:innen ihre wahrgenommenen Handlungsspielräume bei der Unterstützung von Schüler:innen?

Methode

Der Auswertung liegen reflexionsanregende, leitfadengestützte Interviews von Lehrkräften, Schulleitungen und Schul- bzw. Jugendsozialarbeit (n=12) aus zwei Fallstudien an Schulen der Sekundarstufe I zugrunde, die mit der rekonstruktiv-hermeneutischen Analyse nach Kruse (2015) ausgewertet wurden. Im Fokus des Beitrags stehen insbesondere die Positioning-Analyse, die Aufschluss über Selbst- und Fremdpositionierung der Beteiligten eines Prozesses gewährt und stereotypisches Denken aufzeigt, die Agency-Analyse, die Einblicke in die wahrgenommene Handlungs- und Wirkmächtigkeit von Personen gibt sowie die Argumentationsanalyse, die Legitimations- und Anerkennungspraktiken aufdeckt.

Ergebnisse

Einleitend wird dargelegt, wie schulische Akteur:innen die heterogenen Unterstützungsbedarfe Ihrer Schüler:innen rahmen. Diese Rahmung basiert in Teilen auf Stereotypen, die je nach Unterstützungsbedarf auf positiven oder negativen Zuschreibungen basieren. Inwieweit die Unterstützungsbedarfe der Schüler:innen ihrer Wahrnehmung nach adressiert werden können, variiert nach persönlich wahrgenommener Handlungs- und Wirkmächtigkeit.

Es zeigt sich einerseits, dass Personen, die eher selten mit anderen Akteur:innen kooperieren und sich nicht als Teil eines Unterstützungsnetzwerks verstehen, sich häufig nicht auf besondere Bedarfe ihrer Schüler:innen einlassen können. Stereotype Einordnungen werden als Argumentationsfiguren herangezogen, um die eigene Ohnmacht zu rechtfertigen. Diese wahrgenommene Ohnmachtserfahrung mündet mitunter in einer resignierenden Haltung schulischer Akteur:innen, woraus wiederum eine defizitäre Begleitung von Schüler:innen im Berufsorientierungsprozess resultiert.

Andererseits zeigt sich, dass Personen, die multiprofessionell mit inner- und außerschulischen Akteur:innen zusammenarbeiten und von sich ein Selbstverständnis als Teil eines Unterstützungsnetzwerks haben, einen größeren Handlungsspielraum in Bezug auf die Unterstützungsbedarfe im Berufsorientierungsprozess ihrer Schüler:innen wahrnehmen. Auch bei komplexeren Fällen agieren Personen, die mit anderen kooperieren entschlossen und versuchen beständig Lösungen für Herausforderungen im Berufsorientierungsprozess ihrer Schüler:innen zu finden. Stereotype rücken bei dieser Personengruppe in den Hintergrund und werden nicht zur treibenden Kraft des zugrundeliegenden Handelns.

Die Ergebnisse belegen die Bedeutung von multiprofessioneller Kooperation für die Unterstützung von Schüler:innen mit heterogenen Unterstützungsbedarfen. Je nachdem ob und inwieweit schulische Akteure sich als Teil eines Unterstützungsnetzwerks verstehen, begegnen sie den heterogenen Bedarfen ihrer Schülerschaft mit mehr oder minder großem Engagement. Stereotype Denkfiguren werden dabei insbesondere von solchen Akteuren reproduziert, die sich bei besonderen Bedarfslagen außer Stande sehen, die Entwicklung von Schüler:innen im Berufsorientierungsprozess in positivem Sinne zu beeinflussen.



 
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